Kuhweide

1.

Den ganzen Tag über war Jana entspannt am Strand eines kleinen Badeteiches gelegen. Am Abend versetzte die Sonne während des Unterganges die Umgebung in einen sepiafarbenen Ton, die mit Glas umhüllten Betonbürohochhäuser, gleich in der Nachbarschaft zu diesem beliebten innerstädtischen Naherholungsgebietes im Stadtteil Nove Mesto, verstärkten diesen Effekt. 

Nichts war den ganzen Tag über außergewöhnlich gewesen in Bratislava an diesem heißen Julitag. Jetzt am Abend aber war sich Jana nicht sicher, ob sie der Hitzeschlag getroffen hatte, oder ob sie ihren Augen einfach nicht trauen sollte:
Ihr schien, als ob die Felle der Katzen, welche dort gelegentlich um den Badeteich herumstzureunen pflegten, sich in dieser „goldenen Sonnenstunde“ grünlich, bläulich verfärben würden. Jana machte sich Sorgen. Wenn schon nicht um ihren Geisteszustand, dann zumindest um ihre Sehkraft. Sie hatte kürzlich in einem Magazin darüber gelesen und befürchtete eine partielle Farbblindheit. Goldene Sonnenstrahlen färben doch Katzenfelle weder grün noch bläulich ein!

Jana war Physikerin und anderntags ihrem Arbeitgeber bereits zu früher Stunde zur Anwesenheit verpflichtet. Trotzdem war sie einen kleinen Umweg zum Badeteich gefahren, um eventuell die Katzen und ihre Fellfarben noch einmal ansehen zu können. Auf einer Bank lag an diesem Morgen dort ein stadtbekannter einfältiger obdachloser Mann. Aus seinem batteriebetriebenen Radio erklang Tschaikowskys Schwanensee, Opus 20, zweiter Akt: Nummer 10. Jana hielt inne, bot dem Mann eine Zigarette an und lauschte den Klängen. Schon lange hatte sie „Schwanensee“ nicht mehr gehört.
Als er sich die Zigarette angezündet hatte huschte eine Katze zwischen einer Zaunbegrenzung hervor.

„Ist die Katze grün, blau? Oder doch einfach nur rot?

„Ich saufe mehr als du – sei dir sicher: Diese Katze ist grau. Grau, und sonst nichts.“

2.

Die Augenärztin konnte keine Protanopie oder ähnliche Erkrankungen feststellen. Wenn die Symptome aber ohnehin nur beim Anblick herrenloser Katzen rund um einen Badeteich aufträten, dann könne es kaum tragisch sein. Im Wartezimmer hielt Jana, bevor sie sich von der Rezeptionistin verabschiedete, kurz inne. Wieder, Schwanensee; Opus 20 zweiter Akt: Nummer zehn. Diese Redundanzen – grünbläulich angestaubte Katzen, Tschaikowsky; Dafür gibt es freilich keine Diagnosen. Sie beschloss eine Wanderung auf den Devinska kobila  zu unternehmen um diese Irritierungen einfach zu vergessen.

Da stand sie dann bereits auf halber Höhe des Hügels und blickte hinunter auf jene Stelle, an der die March in die Donau mündet und diese sich von dort weiter in Richtung der pannonischen Tiefebene schlängelt. Blaue Donau, hellgrüne Wiesen, dunkelgrüne Wälder und nur spärlich braune Felder; es war alles sommerlich verwachsen. Sie erkannte ein ähnliches Farbenspiel, nämlich jenes der blaugrünen Katzen am Badeteich und der Donaulandschaft von oben betrachtet im Juli. Am Gipfel des Kogels angekommen, scheinbar aus dem Nichts, zog eine dunkle Wolke auf und hüllte Jana mitsamt der Spitze in eine dunkle Gewitterwolke. Die Blitze schienen neben ihr einzuschlagen, der Donnerschall erreichte eine furchtbare Lautstärke; von Regen war trotzdem keine Spur.

Jana suchte Schutz in einem von diesen kleinen überdachten Rastplätzen (slowakisch: Altanok), wie sie überall in den Kleinen Karpaten zu finden sind.

3.

Jana setzte sich, schnaufte durch und war froh, Schutz in diesem Kabäuschen gefunden zu haben. Von einer Sekunde auf die andere saß ihr ein alter Mann mit unfrisiertem Haar und langem Rauschebart gegenüber. Seine Kleidung wirkte leger und abgetragen, etwas aus der Zeit gefallen und keinesfalls für eine Waldwanderung geeignet – schon gar nicht während eines furchtbaren Gewitters.

„Ich habe Sie gar nicht gesehen, als ich mich hier unterstellen wollte?“

„Das liegt in der Natur der Sache.

Ist die Klangfarbe und Lautstärke meiner Stimme angenehm?“

„Ich verstehe nicht…“

„Dann wird es gut sein.“

Es kam Jana vor, als ob dieser Mann immer wieder kurz flimmerte oder flackerte. Ähnlich Fernsehbildern in den 1990ern, wenn der Empfang ein schlechter gewesen war. Und jedes mal, praktisch gleichzeitig, schien in geringer Distanz ein greller Blitz einzuschlagen ohne dabei aber auch nur die Spur eines Flurschadens anzurichten.

„Es kann dir nichts geschehen, das sind elektrische Entladungen, welche leider noch nötig sind, um Referenzsysteme zu überbrücken und mit dir kommunizieren zu können.“

„Ich verstehe nicht…“

Der Mann reichte Jana ein eingeschaltetes Tablet, auf der eine Vielzahl von Formeln und Gleichungen zu sehen waren:

„Das soll dir erklären, was hinter der sogenannten dunklen Materie steckt. Du kannst gerne prüfen. Die Theorie stimmt. Fehler ausgeschlossen.“

Jana traute ihren Augen nicht;  zumindest auf den ersten Blick wirkten die Formeln und Rechnungen keineswegs hanebüchen. Sie blickte den Mann mehr ratlos als fragend an.

„Ich muss mich zuallererst entschuldigen.“, schnaufte der Alte,

„Die Sache mit diesem Moses… das war ein Spaßvogel aus unserer Abteilung. Wir haben euch gefunden und uns riesig gefreut. Und in diesen paar Minuten, während wir noch euren „Planeten“ analysiert haben, da hat er sich… nun, nennen wir ihn phonetisch Herbert… einen Spaß erlaubt und Kontakt zu diesem Moses aufgenommen. Eigenwillig, er wollte ja nichts Böses, hat er zehn Gebote übermittelt. Er hat sie für dringlich erachtet, aufgrund unserer Erstanalyse, versteht sich.“

Schweigend blickten sich die beiden eine Weile an.

„Also, wir sind keine Gottheiten, Götter oder Göttinnen, was auch immer. Nur eine Spezies, die in einem völlig anderen Referenzsystem lebt. Es mag eigenartig klingen, aber das, was ihr Universum nennt, das ist ein Nahrungsmittel und befindet sich in einem gekühlten Lager. Am besten beschreibe ich das, vielleicht als… Käse. Käse in euren Kühlschränken. Das stimmt nicht gänzlich mit der Tatsächlichkeit überein. Aber es ist auch ein anderes Referenzsystem. Am verständlichsten beschrieben ist es aber…“

„Moment: ich sitze hier im Wald am Devinska Kobyla und du willst mir erzählen, du seist das, was unsere menschlichen Gesellschaften Gott nennen. Und erklärst damit und dabei die göttliche Existenz und die eines der wichtigsten Büchersammlung der Heiligen Schrift vollmundig zu einem Missverständnis?

Und als ob das nicht genug wäre, soll unser gesamtes Universum, welches wir noch nicht einmal in Ansätzen verstehen, ein Stück Käse in irgendeinem Kühlschrank sein?“

„Gut rekapituliert. Ja, in euren Modellbeschreibungen wärt ihr so etwas wie ein Atomteilchen in einer Schimmelkäserinde. Deswegen erscheinen dir eure Bäume und Pflanzen großteils grün und eure Gewässer schimmern bläulich.“

„Kann in meinem irdischen Kühlschrank zuhause im Käse auch ein ganzes Universum versteckt sein?“

„Theoretisch, freilich. Insgesamt kümmert ihr Menschen euch zu viel um die großen Räume, um alles Große. Die Möglichkeit von Verschachtelungen im Kleinen bedenkt ihr zu wenig. Das ist nicht schlimm, euch fehlen doch noch viele technische Mittel und Verständnis. Wir haben auch erst kürzlich…“

„Hat es mit dir zu tun, dass ich in den letzten Tagen Katzen in unnatürlich blaugrünen Farbtönen gesehen habe?“

Jana beschloss, sich erst morgen für verrückt erklären lassen zu wollen.

„Ja, um zwischen den Referenzsystemen kommunizieren zu können. Es ist wie eine Art Aura; die Schwanenseemelodien übertünchen dir dabei schlicht unangenehme Geräusche. Die Auswahl war zufällig, ich mochte diese Melodie. Doch belassen wir den technischen Firlefanz. Du musst wissen, dass dir dieses interfrequentare Treffen in deiner Wahrnehmung kurz vorkommen wird. Der Berg ist jetzt gerade in Wolken gehüllt. Niemand kommt herauf, und du kannst nicht hinabsteigen. Es wird niemandem etwas passieren. Es ist nur so, als ob man gegen eine unsichtbare Mauer laufen würde, wenn man versucht, die Nebelwand zu queren Wir können die Zeit bremsen. Aber noch nicht im Maßstabswert von 1:1. Unser Treffen wird in deiner Referenz einige Wochen dauern.

„Deswegen nur ein Treffen?“

„In ein paar zehntausend Jahren vielleicht wieder, falls eure Zivilisation überlebt.

Für uns spielt das zeitlich keine nennenswerte Rolle. Wir haben Herbert vor einer knappen Viertelstunde ertappt, deshalb auch unsere Intervention. Wir wollen abwarten, ob ihr euren klimatischen und gesellschaftlichen Flaschenhals bewältigen könnt. Aber dieser Monotheismus, der sich auch auf Herberts Intervention hin begründet hat, auf den sich eure heutigen größeren Religionen berufen, ist doch etwas aus dem Ruder gelaufen und scheint eurem Fortkommen hinderlich zu sein.“

„Und warum ich? Warum trefft ihr mich hier? Bin ich eine neue Moses?“

„Nein. Moses war Zufall, obwohl doch eine sehr interessante Wahl von Herbert.

Deine Auswahl ist errechnete Analyse, Du bist Wissenschafterin. Auf dem Tablet wirst du einige Dateien finden, die dir die notwendige Reputation verleihen werden. Du wirst in eurer Welt gehört werden. Wir versuchen, Herberts Fehler sanft zu korrigieren und hoffen das Beste.“

„Wie meinst du?“

„Was nützt bestes Wissen, wenn eine Zivilisation systemisch von Idioten in den Abgrund geführt wird ?

Die Menschen können ihre Zivilisation nur selbst retten. Dieser Akt ist eine gesellschaftliche, und – ihr nennt das so – eine politische Entscheidung. Ihr könnt euch selbstverständlich auch wider besseren Wissens selbst zerstören. Tragische Ereignisse passieren, Tragödien finden statt.“

„Was soll ich mit den Berechnungen und Formeln anstellen – Gesetzt den Fall sie stimmen?“

„Schau dir in Ruhe alles an was du auf diesem Tablet findest. Du wirst dann wissen.“

„Moment!“

„Viel Glück, Jana!“

 Der Alte und das Getöse des Gewitters waren verschwunden. Der Nebel aber begann sich nicht sofort zu lichten.

4.

Jana trat aus dem Unterstand heraus. Nun meinte sie zu erkennen, dass die natürlichen blauen und grünen Farbtöne insgesamt stärker gesättigt waren. Sie traf auf eine Gruppe Feuerwehrleute. Diese schienen beim Anblick von Jana sehr aufgeregt und fragten, ob sie sich etwa „auf der anderen Seite der Nebelwand“ befunden hätte. Jana verneinte um sich weitere lästige Fragen zu ersparen. Sie blickte auf ihr Telefon und kontrollierte das Datum. Tatsächlich! Viereinhalb Wochen waren ihr „verschwunden“. Sie war verwirrt und fasste in diesem Moment den Entschluss, anderntags ihre Ärztin aufzusuchen, ohne überhaupt zu wissen, was sie dieser erzählen wird können. Und doch frohlockte sie innerlich, dass am Fuße des Devinska kobylas kein goldenes Kalb angebetet worden war oder gar noch wurde. Jetzt begann sich der Nebel zu verziehen, und wieder ertönte ihr entfernt Schwanensee, Opus 20, zweiter Akt: Nummer 10.