Grundlagen der Spezialdemokratie 

Vor 1989 war die Welt ideologisch binär und damit irgendwie einfach zu verstehen. Ich bin im Westen, wenn auch immerwährend neutral, mit der Gewissheit und dem Selbstverständnis aufgewachsen, auf der “guten” Seite geboren worden zu sein. Neoliberale und faschistische “Laborversuche”, wie etwa in Chile waren in Europa nicht an der Tagesordnung. Im Ganzen und Großen deckte die Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus in Westeuropa wohl Mehrheiten davon ab, sich rechten Fantasien, quasi demokratisch, zu ergeben. Und in Osteuropa schüttelten sich alte Männer auf Staatsbegräbnissen laufend die Hände. Man könnte meinen, dass ZK-Sitzungen vornehmlich zusammen mit Leichenschmäusen abgehalten werden konnte und deshalb formelle Einberufungen gar nicht notwendig waren.

Mit Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU änderte sich diese Begräbnislethargie insofern, als dass zwischen 1989 und 1991 zuletzt die europäische Nachkriegsordnung zu Grabe getragen werden konnte – das vermeintliche Ende der Geschichte.  
Brüche waren allerdings auch im Westen spürbar, die Nachhaltigkeit ebendieser wurde freilich erst in den folgenden Jahrzehnten bemerkbar. Global übernahm im Westen der wirtschaftlich deregulierende Thatcherismus das Kommando. Und in engeren Gefilden konnten Rechtspopulisten im Westen beginnen, die Grenzen der Tolerierbarkeit zu untergraben und versetzen: Beispielhaft der oberösterreichische Wahlkärntner Jörg Haider, der 1986 das Kommando in der FPÖ übernahm um der “ordentlichen Beschäftigungspolitik im 3. Reich” auch gleich das Wort zu reden. 

Sieht man sich politische Europakarten von 1989 und 1993 vergleichend an, dann lässt sich die gewaltige Implosion des Realsozialismus sowjetischer Prägung darstellen, ohne groß erklären zu müssen. Die binäre Welt war hinweggefegt, in Mitteleuropa trennten die Machtgelüste der Herren Klaus und Mečiar die seit 1918 bestehende Tschechoslowakei mit 1. Jänner 1993 friedlich. 

Es lässt sich behaupten, dass die große Gemeinsamkeit in Europa in den 1990ern eine allgemeine gesellschaftliche Abneigung gegen den Sozialismus gewesen ist. Wer im Osten konnte, richtete sich ein schönes Leben ein und das proletarische Fußvolk tat, was es ohnehin seit ihrem Bestehen zu tun pflegte – es verkauft seine Arbeitskraft. 
Was den Gesellschaften in Ost und West Ende der 1980er- und Anfang der der 1990er Jahre gemein war, war der Wunsch, die Gesellschaften zu öffnen. Dass im Westen bereits die Sperrmeister mehr als ante Portas standen mag dennoch nicht verwundern: Der Fuß war bereits in der Tür. 

In der Slowakei etablierte das folgend dargestellte System: Christlichsoziale, Konservative und Liberale auf der einen Seite als “erneuernde” Elemente nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, während sich die “alte Garde” der Apparatschiks in Mečiars HZDS sammelte. Befreit von den Fesseln des Sozialismus, entwickelte sich diese Partei zu einer nationalistischen Partei mit wirtschaftspolitisch realsozialistischen Tendenzen im populistischen Sinn. In dieser Partei wurde niemand zurückgelassen, sobald in relevanter Position verankert, konnte man darauf vertrauen, dass kräftig eingesteckt werden konnte. Versteht man die HZDS historisch, versteht man auch Ficos der HZDS nachfolgende Sozialdemokratie vortrefflich. Zwischen diesen Blöcken schwirren rechte bis rechtsradikale Parteien herum, die bisweilen mehrheitsbeschaffend in Koalitionen wirken. Ausgenommen hiervon ist im Grunde genommen nur die unverschämt offene faschistische Gruppe um Marian Kotleba. 

Trotz unterschiedlicher Nuancen in den jeweiligen Ländern sind die vormals realsozialistischen Staaten heute dadurch geprägt, dass es linke Politik jahrzehntelang nicht stattfinden konnte und damit auch nicht stattgefunden hat. Die alten Kader konnten sich in den 1990ern und frühen 2000ern ein bequemes Leben einrichten und sich politisch re-etablieren. Ideologie spielt kaum eine Rolle, die Sozialstaaten sind abgebaut und werden nicht nachlassverwaltet. Es stehen sich, jeweils in unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen, pro-europäische und retro-nationalistische Blöcke gegenüber. Es besteht ein enormer Reformdruck betreffend progressiver Sozialstaatlichkeit, Umweltschutz und nachhaltiger Klimapolitik. Etablierung einer jeweiligen nationalen Oligarchie. 

Meiner Einschätzung nach trifft der Ausdruck “Linkspopulismus” auf die Sozialdemokratie Fico’scher Prägung nicht zu. Vielmehr entspricht es in ihrer Gesamtheit einer Art Retro-Nationalbolschewismus, von weiteren Ideologien ist diese Strömung der Sozialdemokratie befreit – auch von grundsätzlichen sozialdemokratischen Tendenzen. Das erwähnte scheinbar stabile Gleichgewicht der Blöcke mit den rechts(extremen) Zünglein an der Waage wurde jedoch von der Spaltung der postfaktischen slowakischen Sozialdemokratie empfindlich gestört. Inhaltlich kaum unterscheidbar, kann die Hlas-Partei von Peter Pellegrini dem Fico Block erweitere Stimmen zum Machterhalt liefern. Konnte bisher der konservativ – liberale Block einen erweiterten Abbau zumindest des bürgerlichen Rechtsstaates verhindern, stellt die Situation mit Fico als Premierminister und Pellegrini als Präsidenten der Republik vor einen gravierenden Einschnitt dar. 

Gegenwärtige Tendenzen in der slowakischen Innenpolitik deuten auf einen radikalen Umbau der Machtstrukturen hin. Erkennbar ist jedenfalls, dass es um Absicherung der Macht unabhängig von Wahlergebnissen und im Amt befindlichen Regierungen geht. Ob es sich um einen Umbau wie beispielhaft in Ungarn unter Orban handelt, oder ob es den mittlerweile tief im Staat verwurzelten Mafiastrukturen schlicht um ungestörten Geschäftsbetrieb geht, lässt sich mEn nicht eindeutig sagen. Sicher sagen lässt sich, dass die Übernahme nach den bereits bekannten internationalen “Spielregeln” von statten geht: Medienkontrolle (Umbau RTVS etc.), installieren von genehmen und steuerbaren Kadern in den Ministerien, etc. 

Der Umbau jener einst binären Welt mündet schlussendlich in eine Welt, in der Demokratie selbst im bürgerlichen Sinn nicht mehr stattfindet und Kriege als fortgesetztes Instrument zur Durchsetzung imperialistischer und oligarchischer Interessen dienen. Während der kleinlich nationalistische Block, gerne mit russischer Unterstützung, offen antidemokratische und autoritäre Züge an den Tag legt, spielt der proeuropäische Unionsblock diese Karten auf supranationaler Metaebene. Im Sinne einer ehrlich gemeinten, weltweiten und nachhaltigen Gerechtigkeit sind jedoch beide Blöcke als Teil des Problems zu erkennen und als solches zu benennen. 
 

Es lohnt sich, “Spezialdemokratien”, wie z.B. in der Slowakei, genauer zu betrachten. Denn daraus folgt der Schluss, dass die Wege unterschiedlich gewesen sein mögen: Die Problembären scheinen überall die Gleichen zu sein.